Offensichtlich - denn sonst gäbe es keinen Grund, sich dem Diskurs so ausgiebig zu widmen - geht Butler davon aus, dass die spezifische intelligible* Bedeutung dieser Begriffe nicht in den Dingen selber liegt, die sie bezeichnen, sondern ihre Bedeutung eben durch Diskurse erhalten. [...] Erkenntnistheoretisch lässt sich diese Position folgendermaßen zusammenfassen: Wir er- kennen in der Welt immer nur das, wofür wir sprachlich-diskursive Kategorien haben. Der Dis- kurs also ist es, der den Dingen einen Namen und damit eine Bedeutung zuweist - nicht etwa umgekehrt. Auch hier wieder ein kleines Bild zur Verdeutlichung: Kämen Kartoffeln mit einer Gravur aus der Erde, auf der »Kartoffel« stünde oder kämen Frauen mit einem Etikett »Frau« auf der Stirn zur Welt, so wüssten wir mit Sicherheit, dass es sich um naturgegebene, vielleicht sogar objektive und vom Menschen nicht zu verändernde Entitäten handelte. So aber kommen weder Kartoffeln noch Menschen zur Welt- so kommt nichts und niemand in die Welt. Denn zwischen den Dingen und uns stehen immer, unausweichlich und sozusagen in einem totalen Sinne, Diskurse. Mehr noch, Diskurse bringen aufgrund ihrer produktiven Fähigkeit die Dinge, die wir betrachten, in gewisser Weise selbst hervor. Sie tun dies, indem sie die Welt kodieren, und damit das Feld des Denk-, Sag- und [...] Leb-baren abstecken. Wir denken und sprechen in biologischen, medizinischen, psychologischen oder kapitalistischen Kategorien, womit ge- wisse Phänomene der Welt in eben diesen Weisen be-deutet werden: Die »Risikoschwanger- schaft«, die durch den medizinischen Diskurs »geschaffen« wird, die Chromosomen als Defini- tion einzelner Lebewesen (biologischer Diskurs), die Gesundheit hauptsächlich als Fähigkeit zum Arbeiten im kapitalistischen Wirtschaftssystem (Diskurs Kapitalismus), die Magenschmer- zen als Ausdruck einer stressigen Lebensführung (psychologischer Diskurs). Was Diskursen eigen ist- und was sie so überaus mächtig macht -, ist ihre Fähigkeit, alternative Bedeutungen zunächst geradezu unmöglich zu machen. [...] Das heißt: Diskurse stecken den Bereich des Denk- und Leb baren ab, indem andere Optionen nicht denk- oder lebbar scheinen. Nun ist mit der Produktivität von Diskursen nicht gemeint, dass es ohne einen bestimmten Diskurs die Phä- nomene, die sie bezeichnen, nicht gäbe. Selbstverständlich gibt es auch ohne den biologischen Diskurs der Gegenwart Viren oder Krankheiten. Aber, und das ist die Pointe der Diskurstheorie, die Phänomene, um die es geht (Viren, Gesundheit, Magenschmerzen et cetera) sind immer in einer bestimmten Weise durch das diskursive Feld, in denen sie bedeutet werden, geformt.“
* Intelligibel: nur durch den Intellekt und nicht durch die sinnliche Wahrnehmung erkennbar.
Frage:
Was also ist ein Diskurs bei P.-I. Villa und bei J. Butler?